(schein)heilig

(schein)heilig
Bernd Reiter, 2018 – 7 Kirchenbänke und 40 TV-Bildschirme


Der Maler, Bildhauer und Installationskünstler Bernd Reiter wurde 1948 in Köln geboren, wo er bis heute lebt und arbeitet. Beruflich, neben seiner Kunst, legt er als erfolgreicher Unternehmer mit seinen außergewöhnlichen Bauwerken seit nun mehr 35 Jahren einen besonderen Wert auf eine aus dem Mainstream hervorstehende, ungewöhnliche Architektursprache, die ihre Inspiration aus dem Dekonstruktivismus bezieht. Das Denken in unorthodoxen Formaten und großen Dimensionen ist ihm also bestens vertraut.
Seit über 40 Jahren ist Bernd Reiter aber auch künstlerisch tätig. Kreativität spielt in seinem Leben auf vielen Ebenen eine wichtige Rolle. Insbesondere seine großen Installationen der vergangenen Jahre zeichnen sich durch ihre gesellschaftliche Brisanz und hohe visuelle und inhaltliche Intensität aus. Was ihn in seiner künstlerischen Praxis antreibt, hat er einmal so formuliert: „Meine Kunst ist intensiv. Sie ist Sein. Ich kann meine Gedanken aufgrund meines Talents »verstofflichen«, in Materialien umsetzen. Und damit ein Ergebnis erzielen, das etwas ausdrückt, ein Gefühl transzendiert, eine Vision erlebbar macht.” Und damit trifft er oft die Befindlichkeiten anderer Menschen, spricht sie auf emotionaler oder intellektueller Ebene an.
Bernd Reiter handelt getreu diesem Credo. So erregte er in den Jahren 2016 und 2017 mit seiner Installation „Ironie des Schicksals“ große Aufmerksamkeit. Er präsentierte die aufwendige und materialreiche Arbeit damals auf den beiden Kunstmessen ART.FAIR, Messe für moderne und aktuelle Kunst in Köln und auf der ART Karlsruhe. Sie besteht aus zwei schwarz lackierten, amerikanischen Straßenkreuzern, einem Oldsmobile und einem Cadillac, beides voluminöse Modelle mit gewaltigen, verchromten Stoßstangen, die in vergangenen Jahrzehnten auch als Regierungsfahrzeuge eingesetzt wurden. Sozusagen in diese historischen Limousinen hineingecrasht ist ein russischer Abfangjäger der MiG-21er-Reihe. Rote Sterne auf den Tragflächen und am Leitwerk lassen keinerlei Zweifel über die Herkunft der Maschine aufkommen. Aufgerufen werden hier Erinnerungen an den sogenannten „Kalten Krieg“, der das angespannte Verhältnis zwischen Ost und West, den kommunistischen Ländern unter Führung der Sowjetunion und dem „Freien Westen“ unter Führung der USA, jahrzehntelang prägte. Für Bernd Reiter besteht dieser latente Konflikt weiterhin. Er versteht seine Arbeit daher als ein „Mahnmal für einen drohenden Clash der Weltmächte in Stellvertreterkriegen“. Zahlreiche TV-Monitore, die in die Installation schrapnellartig eingeschlagen zu sein scheinen, zeigen Kriegsszenen, wie man sie aus der Tagesschau und anderen Nachrichtensendungen kennt. Bernd Reiter bezieht sich in dieser Arbeit ausdrücklich auf den Konflikt in Syrien. Daher fügte er auch in Form eines gelben Rettungsfloßes, in dem wiederum altmodische Röhrenfernseher mit auf allen Bildschirmen identischen Bildsequenzen von Migranten eingebettet sind, ein metaphorisches Element hinzu, das auf die durch diese Art von Konflikten ausgelösten Flüchlingswellen hindeutet, deren Auswirkungen auch bei uns spürbar sind.
„Grundsätzlich beschäftige ich mich seit vielen Jahren in meinen Arbeiten mit den Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, fasst Bernd Reiter die inhaltliche Stoßrichtung seines Werks zusammen. Er wünscht sich für seine Arbeiten eine große Sichtbarkeit. Daher reizen ihn stark frequentierte Ausstellungsorte wie Kunstmessen, die in drei Tagen bis zu 60.000 Besucher anziehen.
Die jetzt in Venedig gezeigte Installation „(schein)heilig“ wurde im Jahr 2018 fertiggestellt. Sie entstand vor dem Horizont der zahlreichen Fälle sexuellen Missbrauchs innerhalb der katholischen Kirche. Die Arbeit besteht aus sieben Kirchenbänken und 40 TV-Bildschirmen. Die Installation ist rund 7 Meter lang und breit. Ihre Höhe beträgt rund 6 Meter. Bernd Reiter hat für diese Installation halbrunde Kirchenbänke aus einer 2006 profanierten Kirche erworben. Der Kölner Architekt und Pritzker-Preisträger Gottfried Böhm (*1920) hatte den modernen Kirchenbau 1956 abgeschlossen. Es handelt sich also um Bänke, die, wenn man so will, mit 60 Jahren Geschichte und/oder Leidensgeschichte aufgeladen sind. Einzelne Holzbänke ragen teils vertikal in Richtung Decke, quasi gen Himmel, und bilden so einen kuppelartigen, sakral anmutenden Raum, der aber auch als geöffneter Mund gedeutet werden kann, aus dem „der Schrei der Missbrauchten“ (Bernd Reiter) dringt. Andere Bänke sind davor platziert und laden ein zum Hinsetzen, Schauen und Innehalten. In das angedeutete Kuppeldach sind TV-Bildschirme eingebettet. Auf ihnen zu sehen ist eine Bilderflut mit Szenen, Berichten und Bildern aus der Kirchengeschichte. Die Inhalte der Bildschirme kann Bernd Reiter jederzeit ändern und so auf aktuelle Entwicklungen und veränderte Situationen eingehen. Die Installation „(schein)heilig“ kann daher als Work in Progress angesehen werden. Eingeblendete Begriffe wie „Missbrauch“, „Vertrauen“ oder „Ethik“ verweisen auf das große Thema der Installation „(schein)heilig“: Bernd Reiter prangert die Vertuschungen der Kindesmissbrauchsskandale aus den vergangenen Jahrzehnten in der katholischen Kirche in aller Schärfe an. Durch die starke Überhöhung visueller und sprachlicher Elemente schafft er eine hochexplosive, emotional aufgeladene Wahrnehmungssituation, der sich der Betrachter kaum entziehen kann. Damit legt er dem Betrachter offen, dass die Kirche als selbst ernannte moralische Instanz zumindest in Teilen fehlbar ist und es bisher trotz aller Bemühungen nicht geschafft hat, die bittere Wahrheit vollständig aufzuarbeiten und ans Tageslicht zu bringen.
Sodann lässt er erkennen, dass ein Umdenken, ein Prozess der Aufklärung in Gang gesetzt wurde, und dass die Kirche nach Lösungen sucht und nach Aufklärung strebt. Bernd Reiter positioniert sich in dieser und in anderen Arbeiten eindeutig als gesellschaftskritischer Künstler, der mit Aufmerksamkeit erregenden, imposanten Installationen mit Eyecatcher-Qualitäten auf gesellschaftliche Missstände, die Scheinmoral und Willkür der Mächtigen aufmerksam machen will. Seine Praxis geht teilweise weit über den bloßen Protest hinaus und stößt in Zonen der künstlerisch-politischen Einmischung vor, die durchaus auch mit Begriffen wie Aktivismus oder Agitation belegt werden können. Er steht damit in einer Tradition, die, ausgehend vom Vietnamkrieg und der 68er-Bewegung vor rund 50 Jahren in den USA und Westeuropa, die Notwendigkeit einer gesellschaftlich relevanten Kunst postulierte.
Bernd Reiter schafft eine Kunst der Dringlichkeit, die gesellschaftliche Phänomene und Missstände, aber auch die Mechanismen ihrer medialen Aufarbeitung speziell im Medium Fernsehen kritisch reflektiert. Die Verwendung spektakulärer, dem Alltag entnommener und stark visuell codierter Readymade-Objekte wie etwa der eingangs erwähnten Limousinen und die extreme Verdichtung von Videobildern lassen seine Installationen zu Zonen der Brisanz und Unausweichlichkeit werden. Die in der zeitgenössischen Kunst seit geraumer Zeit zu beobachtende Tendenz, die tradierte Distanz zwischen Bild und Betrachter aufzuheben, indem der Betrachter zum integralen Bestandteil der Arbeit wird, wird in der neueren Kunstwissenschaft als immersive Kunst bezeichnet. Diese neue Qualität künstlerischer Praxis charakterisiert – zumindest ein Stück weit – auch Bernd Reiters Arbeiten, etwa indem die Rezipienten der Arbeit „(schein-)heilig“ auf den aufgestellten Kirchenbänken Platz nehmen.
In den Gesamtkontext der Ausstellung GENEALOGIES fügt sich Bernd Reiters Beitrag, insbesondere unter dem Aspekt der Genealogie der Moral, wie sie von Friedrich Nietzsche und Michel Foucault zu unterschiedlichen Zeiten ganz unterschiedlich aufgefasst wurde, perfekt ein. Wobei die progressiv-kritische Methode Foucaults sicherlich sehr viel besser zur Einordnung seines Werks geeignet ist.

Dennoch sei hier ganz zum Schluss noch eine kurze Passage aus Friedrich Nietzsches Werk „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“ zitiert, in welcher sich der Philosoph mit der ihm eigenen Verve und Unerbittlichkeit über den Berufsstand des Priesters auslässt: „Aus der Ohnmacht wächst bei Ihnen der Hass in’s Ungeheure und Unheimliche, in’s Geistigste und Giftigste.“
Nicole Büsing & Heiko Klaas

Weitere Impressionen

© Bernd Reiter, Zollstockgürtel 67, 50969 Köln